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Natal – Ein Nachruf

Natal heißt jetzt Kinect. Das phonetische Ungetüm aus Verbindung und Bewegung ruft bei mir eher Erinnerungen an Technische Mechanik II, Kinematik und Kinetik, hervor. Da gab es zwar eine gute Note, aber zu den Highlights würde ich es dennoch nicht zählen. Doch hinter dem Namenswechsel steht noch viel mehr. Es ist eine weitere von Microsofts Ambitionen neue Käuferschichten zu erobern und dabei kläglich zu scheitern.

Mir sei bitte verziehen, wenn ich im Folgendem immer noch von Natal rede, das andere Wort kommt meiner Zunge nicht zugute.

Ein Blick zurück zum 6. Juni 2009 ruft Erinnerungen wach. Kaum hatte man das ulkige Tony Hawk Ride verdaut schien es so, als hätte man sich bei Activision die falsche Pressekonferenz (Passt die Bezeichnung überhaupt zu solchen Veranstaltungen?) ausgesucht – Noch nie war die Lebensdauer eines Produktes kürzer. Projekt Natal sollte nicht nur mit der Bewegungssteuerung der Nintendo Wii und das daran orientierte Pendant von Sony den Boden aufwischen, sondern auch einen völlig neue Art des Spielens ermöglichen. Innovative Technik, perfekte Einbindung und erschwinglich für Jedermann. Das Ziel war ein zweiter Konsolenlaunch und Millionen neuer Käufer aus dem bisher abstinenten Casual-Bereich. Und wer wollte nicht schon immer wissen, wie die Schuhe der Avatare von unten aussehen?

Vor allem schwang aber meine Hoffnung mit, dass man es nicht nur mit den obligatorischen Minigames zu tun haben wird. Mit Pedo Milo hat nicht nur Peter Molyneux sein Spielzeug gefunden – Natal hätte auch in weitere „Hardcore“-Spiele gepasst. Headtracking in Rennspielen, Körperbewegungen in Guitar Hero und Emotionen in Fable 3. Und Ubisoft hätte bestimmt was mit Hand und Fuß in seine Ghost Reacon-Serie eingebaut – Steuerung per Handzeichen, was kann einen noch mehr ins Spiel ziehen?

Aber diese Hoffnung wurde schon dann aufgegeben, als es hieß man würde aus Kostengründen die Berechnung auf die 360-CPU auslagern. Dies würde aber nicht viele Ressourcen beanspruchen – Nur 10-15%…Ob das wenig ist sie mal mehr oder weniger dahingestellt. Aber es ist doch klar, dass die Xbox nach 5 Jahren mehr oder weniger ausgereizt ist. Verbesserungen werden vor allem durch effizientere Programmierung erzielt und das System bis zum letzten ausgereizt. Und hier stellt sich Natal in den Weg. Es lässt die Xbox von ihren Möglichkeiten zurückfallen oder aber wie es wohl im wahrscheinlicherem Fall kommen wird: Kein aufwendiges Spiel wird es sich leisten können, groß auf Natal setzen zu können. Das einzig wirklich interessante Spiel bisher scheint das gerüchteweise genannte Dead Space Extraktion zu sein – Ein Port eines hochwertigen, wenn auch gefloppten Wii-Spiels. Die anderen angekündigten Spiele kommen einem sehr vertraut vor, wenn auch mit starken Lizenzen dahinter.

Bleiben also nur die mehr oder weniger beliebten Casual Hampeleien. Und da ist Kintec auch nur ein weiteres Glied in einer langen Kette von Anstrengungen seitens MS die Xbox für mehr Käuferschichten zu öffnen. Nur steht man vor der Frage, welches die bisher größte Enttäuschung in all den Mühen war? Vielleicht Rare? Mit Sicherheit teuer von Nintendo abgekauft fristet das Studio zusammen mit Lionhead als letztes verbliebenes bekanntes Microsoft Game Studio ein trauriges Dasein als Casual-Lieferant. Von der erhofften Brillanz wie zu Zeiten von Golden Eye 64 und Perfect Dark blieben die zwar interessanten, aber nicht durchschlagenden Spiele Viva Pinata und Kameo. Der Erfolg aus Sicht der Konsolen dürfte sich damit in Grenzen halten. Auch die Avatare oder die Twitter/Facebook-Anbindung dürften mit Sicherheit niemand zum Kauf bewogen haben. Wann war eigentlich die letzte Staffel von 1 gegen 100? Kennt noch jemand In the Movies? Wo bleiben die Eye Toy-Klone für die Visions-Kamera?  Man kann also festhalten, dass keiner von Microsofts Versuchen je wirklich gefruchtet hat.

Die wichtigste Frage zum Schluss bleibt aber für mich, in wieweit es Natal oder sämtliche Bewegungssteuerungen es schaffen, Spiele als Medium weiterzuentwickeln? Von der ersten Begeisterung mal abgesehen scheint diese nämlich keinen wirklichen Einfluss auf die Entwicklung zu haben. Ein Blick auf die Wii offenbart, dass es scheinbar nur Nintendo verstanden hat, die Steuerung für Spiele adäquat umzusetzen. Aber die Frage bleibt: „Geht das nicht auch mit einem Gamepad?“. Jetzt lässt sich natürlich argumentieren, dass Bewegungssteuerung vor allem die Immersion erhöhe. „Fair enough“, sage ich, aber ist es mir das bisschen mehr Immersion wert? Mittlerweile geht es bei mir soweit, dass wenn ich mal die Chance habe Wii Sports zu spielen es gleich im sitzen tue. Immerhin bleibt mir bei der Wii noch die Wahl, bei Natal sieht es schwieriger aus. Die Krönung ist der von VG247 so wunderschön auf den Punkt gebrachte Dignity Degeneration Mode. Was nutzt es mir, wenn ich die Steuerung nur mit 3 Promille ertragen kann? Da kommen noch andere, ganz rationale Faktoren hinzu, sei es der notwendige Platz vor dem Fernseher oder die notwendige Helligkeit für die Kamera.

Abgesehen von der ersten Euphorie kann Natal also bisher nicht überzeugen. Das ist auch nicht nur meine Meinung. Zu viel lief einfach falsch. Und der bisher bekannte Preis tut sein übriges. Hat man für die Streichung des internen Chips entschieden und so viel Potenzial verschenkt sollte sich das ja in irgend einer Weise positiv im Preis ausdrücken. Zugegeben, offiziell wird der Preis wohl erst heute Abend verkündet, aber die Gerüchte bewegen sich weit entfernt von den ehemaligen 50 Pfund. Es muss naiv von mir gewesen zu sein glauben, dass Natal so günstig werden kann. Dafür muss ich nur einen Blick auf die Preise anderer Xbox-Peripherie werfen.

Was als Fazit bleibt ist die Befürchtung, MS könnte alles falsch gemacht haben, was man falsch machen kann. Dabei ging es jetzt sogar noch weniger um technische Sachen wie den auffallend hohen Lag zwischen Bewegung und Umsetzung. Aber fairerweise muss man auch eingestehen, dass nicht aller Tage Abend ist. Der entscheidende Abend ist der heutige, wenn um 19:30 die offizielle Pressekonferenz ist und Microsoft die Karten auf den Tisch legt.

14. Juni 2010 | Autor: schmusheep